Weniger Energie – mehr Strategie

Weniger Energie – mehr Strategie
  • Blogartikel
  • November 2022

Dr. Johannes Schneider und Dr. Eva Poglitsch

 

Weitblick schafft Orientierung – Energiestrategie neu denken

Es erübrigt sich in diesen Tagen, noch eigens auf steigende Energiepreise hinzuweisen. Politik, Interessensvertretungen und andere Akteure haben in zahllosen Beiträgen betont, dass auch für Unternehmen akuter Handlungsbedarf besteht. So viel ist klar: Die Zeiten, in denen Energiekosten für weite Teile der deutschen und österreichischen Industrie einen leicht zu handhabenden Kostenfaktor darstellten, sind unwiderruflich vorbei. Da kurzfristige Lösungen kaum in Sicht sind, brauchen Unternehmen nachhaltige und robuste „Energie­ strategien“. Wir geben einen Überblick, was sie kurz­, mittel­ und langfristig tun können, um ihre Energiekosten im Griff zu behalten.

Gesamtwirtschaft und Energiebedarf. Ein Überblick nach Sektoren

Steigende Energiepreise bringen gravierende Folgen für die Wirtschaft in Deutschland und im gesamten deutschsprachigen Raum mit sich. Abbildung 1 stellt verschiedene Sektoren, ihren durchschnittlichen Energieverbrauch sowie ihre Beschäftigtenzahl dar. Der besseren Übersichtlichkeit wegen teilt sie die Gesamtwirtschaft in vier Quadranten auf.

Im rechten oberen Quadranten finden wir die Sektoren, die in der öffentlichen Diskussion eine herausragende Rolle spielen, da die betreffenden Unternehmen einen besonders hohen Energieverbrauch und zugleich hohe Beschäftigtenzahlen aufweisen. Diese Unternehmen stehen angesichts der energiewirtschaftlichen Entwicklung zwar vor einer besonders schweren Belastungsprobe, aber sie verfügen oft schon über ein beträchtliches energiewirtschaftliches Know­how, das demjenigen von klassischen Energieversorgern kaum nachsteht. Energiekosten bilden nämlich seit jeher eine Größe, mit der sie rechnen müssen. Diese Sektoren sind für rund 65% des Energieverbrauchs verantwortlich. Auf sie entfallen aber lediglich 20% der in deutschen Industrie­ und Dienstleistungsbranchen Beschäftigten, und sie machen gerade einmal 2% aller Unternehmen aus. Daraus wird deutlich, wie dünn energiewirtschaftliches Know-how in der deutschen Unternehmenslandschaft gesät ist – und wie bedrohlich die aktuelle Situation für deutsche Gesamtwirtschaft ist.

Abbildung 1

Industrielandschaft Deutschlands nach Sektoren, differenziert nach Energieverbrauch und Beschäftigtenanzahl

Während die explodierenden Energiekosten die Gewinn­ und Verlustrechnungen aller Sektoren schwer belasten, besitzt ein überwiegender Teil der Unternehmen nicht genügend Know-how, um einer Situation wie dieser grundsätzlich zu begegnen. Das gilt in besonderem Maße für die Unternehmen der produzierenden Industrie, die im oberen linken Quadranten versammelt sind und beispielsweise den gesamten deutschen Maschinenbau sowie Hersteller elektrischer Ausrüstung und elektronischer Geräte einschließen. Diese Unternehmen verbrauchen 6% der Energie, stellen ein Viertel aller Beschäftigten und machen 7% aller Unternehmen aus. Sie sind vergleichsweise konzentriert und kommen im Schnitt auf dreistellige Beschäftigtenzahlen. Trotz der Covid­19­Pandemie konnten sie in den letzten zehn Jahren vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren und verfügen daher oft über komfortable Eigenkapitalquoten, auch weil sie vielfach eigentümergeführt sind. Unternehmen dieses Typs verfügen somit oft über eine ausreichende unternehmerische Manövriermasse, um mit der gegenwärtigen Situation und ihren Herausforderungen umzugehen.

Der Quadrant unten links umfasst beinahe den gesamten Dienstleistungssektor und weite Teile des Nahrungsmittelsektors. Obwohl diese Unternehmen „nur“ für 16% des Energieverbrauchs verantwortlich sind, stellen sie 55% der Beschäftigten und machen rund 90% aller Unter­ nehmen aus. Die durchschnittliche Mitarbeiterzahl ist vergleichsweise gering, die Eigenkapital­ decke oftmals sehr dünn, und die Rentabilität kann je nach Geschäftsmodell und Zeitraum erheblich schwanken. Oft fehlt die unternehmerische Manövriermasse, um den Kosten­ schock aufzufangen.

Abbildung 2 veranschaulicht die durchschnittliche Umsatzrendite und den geschätzten Anteil der Energiekosten am Gesamtumsatz in Bezug auf ausgewählte Sektoren in Deutschland über den Zeitraum der letzten zehn Jahre. Sie lässt erahnen, wie drastisch sich bereits eine Verdoppelung der Energiekosten – von einer möglichen Verfünf­ oder gar Verzehnfachung ganz zu schweigen – auf die Profitabilität der betreffenden Unternehmen auswirken kann. Das gilt erst recht, wenn sich die steigenden Energiepreise nicht weitergeben lassen und andere Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen, um den Preisschock abzufedern.

Abbildung 2

Durchschnittliche Umsatzrendite und Energiekostenanteil ausgewählter Industriesektoren in Deutschland

Was lässt sich tun?

Wie lassen sich die steigenden Energiekosten bewältigen? Die gute Nachricht lautet: Es gibt eine Reihe von Handlungsoptionen, die auch im Sinne der mittel­ bis längerfristigen Dekarbonisierungsziele der Europäischen Union sind und an denen es auf längere Sicht kein Vorbeikommen gibt. Die schlechte Nachricht lautet: Kurzfristig greifende Optionen sind rar und kaum geeignet, rasch für Entlastung zu sorgen und den Energiepreisschock in vollem Umfang aufzufangen. Schon in diesem Herbst werden sich Unternehmen aller Sektoren intensiver denn je mit dem Thema Energie auseinandersetzen müssen. Daher sind sie gut beraten, eine „Energiestrategie“ auszuarbeiten.

Unternehmen sind gut beraten, eine ‚Energiestrategie‘ auszuarbeiten.

Abbildung 3 steckt den Rahmen möglicher Handlungsoptionen ab, nach Verbrauch und Beschaffung unterscheidend. Die Grafik stuft die aufgeführten Maßnahmen nach ihrer Fristigkeit, von oben nach unten zunehmend, ab; am unteren Ende steht damit ein langfristig und grundlegend veränderter Energiemix, der den Übergang von Erdgas zu Wasserstoff als Energieträger beinhaltet. Was die gegenwärtige Situation besonders prekär macht: Zum Gas sind kurz­ und mittelfristig keine gangbaren Alternativen in Sicht.

Abbildung 3

Handlungsoptionen zur Sicherstellung der Energieverfügbarkeit und Optimierung der Energiekosten

Verbrauchssenkung ohne Volumeneinschränkung
Die einzige Möglichkeit für Unternehmen, Kosten kurzfristig zu senken, besteht in der Senkung des Verbrauchs. Im Idealfall würde der Output konstant gehalten werden. Hierfür müssen alle Unternehmensprozesse durchleuchtet und ein besonderes Augenmerk auf die Produktion gelegt werden, um Wege zu finden, Energie einzusparen. Die Lastverbrauchskurve darf dabei nie aus den Augen verloren werden.

Unsere Projekterfahrungen bestätigen die Schätzungen der Deutschen Energie­Agentur (dena), wonach je nach Produktionssetup und Stand der Anlagenauslegung Einsparungen von bis zu 30% möglich sind. Am meisten lässt sich bei Gebäuden, Pumpen und Beleuchtungssystemen einsparen: bei Gebäuden durch eine bedarfsgerechte Anpassung der Energieversorgung und nicht zuletzt mithilfe der Isolation von Gebäudehüllen, Fenstern und Toren; bei Pumpen, die rund 12% des industriellen Energieverbrauchs in Deutschland ausmachen, ebenfalls durch Anpassung an den tatsächlichen Bedarf, und bei der Beleuchtung, auf die rund 7% des industriellen Stromverbrauchs in Deutschland entfallen, durch energieeffiziente Leuchtmittel sowie tages- und präsenzabhängigen Einsatz. Auch bei Druckluft- anlagen oder der IT­Infrastruktur ließe sich außerdem noch ansetzen. Teilweise sind so erhebliche Einsparungen möglich. Die skizzierten Maßnahmen sind im Großen und Ganzen schon in den Energieeffizienzrichtlinien der EU angelegt, und die gegenwärtige Lage wird der Umsetzung dieser Richtlinien zweifellos weiteren Auftrieb geben.

In einer aktuellen Strategy& Studie (B2B Energy Solutions – Study 2022) haben wir die Geschäftspotenziale für „B2B Energy Solutions“ untersucht und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Markt für Effizienzberatung wird bis 2030 mit mindestens 10% wachsen und allein in Deutschland ein Volumen von bis zu EUR 11 Mrd. erreichen.

Kurzfristiger Umbau des Energiemixes
Derzeit können wir bei einigen Unternehmen, die (bereits) technisch dazu in der Lage sind, die kurzfristige Umrüstung von erdgasbetriebenen Anlagen auf alternative Energieträger beobachten. Flüssig­ oder Biogas bieten sich hierbei an, in selteneren Fällen auch Heizöl oder Pellets. Kurzfristig kann so tatsächlich Abhilfe geschaffen werden, zumal diese Energieträger leichter zu beschaffen sind, doch eine langfristige und vor allem nachhaltige Lösung ist darin nicht zu erblicken.

Mittelfristiger Umbau des Energiemixes
Nicht nur hinsichtlich der Beheizung von Gebäuden, sondern auch der Gewinnung von Prozesswärme im unteren und mittleren Temperaturbereich bieten Wärmepumpen der Industrie eine realistische Alternative zur erdgasbasierten Wärmeerzeugung. In vielen industriellen Sektoren liegt der Wärmebedarf zum großen Teil bei unter 100°, insbesondere im Maschinenbau und der Herstellung von Nahrungsmitteln, Fahrzeugen oder Fahrzeugteilen. In diesen Sektoren fällt etwa ein Viertel des Wärmebedarfs der deutschen Industrie an. Laut Schätzung des Fraunhofer Institutes können Wärmepumpen potenziell 23% des industriellen Wärmebedarfs in Deutschland decken.

Verbrauchssenkung mit Volumeneinschränkung
Gesamtwirtschaftlich wird die Verbrauchssenkung dann zum Problem, wenn sie zu einer Volumeneinschränkung führt, denn damit geht eine Wertschöpfungskontraktion einher. Dennoch kann und sollte ein solcher Schritt auf Unternehmensebene in Betracht gezogen werden. Wird die Produktion von bestimmten Linien unprofitabel, da sich die gestiegenen Energiekosten nicht in Form höherer Preise weitergegeben lassen, kann eine zumindest temporäre Produktionseinschränkung betriebswirtschaftlich durchaus sinnvoll sein. Hierbei kommen die Reduktion des Schichtbetriebs, die zeitweise Stilllegung von Werken oder Linien oder die Verlagerung der Produktion von Österreich oder Deutschland in Länder mit deutlich niedrigeren Energiekosten wie Frankreich in Frage. Letzteres kommt allerdings nur für (größere) Konzerne in Betracht.

Eine aktuelle Umfrage des Deutschen Industrie­ und Handelskammertags (DIHK), deren Ergebnisse Abbildung 4 veranschaulicht, unterstreicht die Aktualität dieses Themenkomplexes. Ein Drittel der energieintensiven Unternehmen in Deutschland sieht sich angesichts der gestiegenen Energiepreise bereits gezwungen, die Produktion zu drosseln. Jedes zehnte der befragten Unternehmen hat bereits entsprechende Maßnahmen umgesetzt, was angesichts der längeren Vorlaufszeiten von Produktionsreduktionen gerade in energieintensiven Unter­ nehmen einen geradezu alarmierenden Wert darstellt.

Besondere Gefahr geht von Gas­ oder sogar Strommangellagen aus, die zu Rationierungen führen könnten. Denn es ist auch noch völlig unklar, ob ein Hoch­ und Herunterfahren der Produktion in Abhängigkeit der gerade verfügbaren Energie umzusetzen ist, ohne die Effizienz und Profitabilität zu gefährden.

Abbildung 4

Notwendigkeit zur Reduktion der Produktion aufgrund gestiegener Energiepreise (Deutschland, September 2022)

Gas-­ oder Strommangellagen sind kritisch, denn ein Hoch­ und Herunterfahren der Produktion ist in vielen Industrien kaum profitabel zu bewältigen.

Dauerhafte Stilllegung bzw. Verlagerung
Die dauerhafte Stilllegung oder Verlagerung von Produktionsstätten bilden die ultima ratio – die standortpolitisch wenig wünschenswert erscheint. Und doch haben international geführte Konzerne wie Arcelor­Mittal oder SKW Piesteritz als Deutschlands größter Ammoniak­ und Harnstoffproduzent in den letzten Wochen und Monaten erste Anlagen
in Deutschland stillgelegt.

Adaptierung der Beschaffungsstrategie mit Versorger
Auf der Aufbringungsseite besteht der erste Schritt darin, den Dialog mit dem Versorger zu suchen. Dass dieser Dialog oft nicht von Erfolg gekrönt ist, liegt daran, dass er auf hochemotionale Weise und ohne hinreichendes energiewirtschaftliches Wissen geführt wird. In der fortschreitenden „Spotifizierung“ der Eindeckung zeichnete sich die gegenwärtige Schieflage bereits ab. Obgleich den Unternehmen (oftmals) von verantwortungsvollen B2B- Vertriebsprofis der Energiewirtschaft eine Risikostreuung in Form von Fixpreisen zumindest für Teile ihres Portfolios empfohlen wurde, spekulierten die meisten bei den Vertragsabschlüssen immer wieder auf wieder sinkende Preise und ließen diese Chance ungenutzt verstreichen.

Im Dialog zwischen Unternehmen und Energieversorgern kommt es in dieser angespannten Lage besonders darauf an, die oftmals langjährigen Kundenbeziehungen nicht über Gebühr zu belasten. Zwei Themen sollten aber in jedem Fall angesprochen werden:

  • Demand Side Management oder Laststeuerung: Das sogenannte „peak shaving” hat zum Ziel, den Energieverbrauch zu Spitzenzeiten möglichst zu drosseln, da die dabei anfallenden Kosten signifikant höher liegen als sonst. Dieses Verfahren bietet Verbrauchern den Vorteil, Kosten einzusparen, und Stromversorgern die Möglichkeit, den Verbrauch zu Spitzenzeiten gering zu halten.
  • Förderprogramme: Die Politik hat längst in den Markt eingegriffen, und diese Maßnahmen entfalten eine immer größere Breitwirkung. Lag das Augenmerk zunächst auf Endverbrauchern (Stichwort „Strompreisdeckel“) oder einzelnen systemrelevanten Akteuren (Stichwort „Gasumlage Uniper“), planen Regierungen nun weitergehende Unterstützungsmaßnahmen. Zwei Entlastungsmaßnahmen besitzen für den deutschen Mittelstand gegenwärtig besondere Relevanz: das Energiekostendämpfungsprogramm (EKDP) und der Spitzenausgleich. Zwar ist derzeit noch unklar, wann diese Zuwendungen in welcher Form und Höhe zur Auszahlung gelangen sollen, aber Energieversorger und Kunden sind in jedem Falle gut damit beraten, gemeinsam einen Weg durch diese unübersichtlicher Situation zu suchen.

Aufbau Eigenerzeugung am eigenen Standort/ in Standortnähe
Auch wenn die operative Energiebeschaffung ein dringendes Anliegen von Unternehmen darstellt, muss der Aufbau eigener Produktionskapazitäten auf dem Weg zu einer „Energie­ strategie“ eine zentrale Rolle spielen. Längst deckt die deutsche Industrie einen signifikanten Teil (24%) ihres Strombedarfs durch dezentrale Eigenerzeugung ab – aber es sind vor allem energieintensive, große Unternehmen, die etwa in Form von Blockheizkraftwerken (BHKW) von dieser Option Gebrauch machen. Zur Veranschaulichung sei nochmals auf Abbildung 1 hingewiesen: Die Unternehmen im rechten oberen Quadranten erzeugen auch 80% der Eigenenergie. Dabei wird nochmals deutlich, wie abhängig deutsche Unternehmen von fossilen Energieträgern sind: Mehr als die Hälfte der Energie wird durch Verbrennung von Erdgas erzeugt, das in diesen Monaten besonders knapp ist. Gerade einmal 9% der Eigenerzeugung und damit nur rund 2% des gesamten Stromverbrauchs der deutschen Industrie wird mithilfe von erneuerbaren Energien bestritten

Abbildung 5

Größe und Zusammensetzung der Stromeigenversorgung in der deutschen Industrie

Eine erneuerbare Stromerzeugung, die sich vor allem auf PV-­Dachanlagen, kleinere PV­ Freiflächenanlagen, industrielle Wärmepumpen oder Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen-Anlagen stützt, bildet dennoch einen wichtigen Hebel, um Stromkosten zu senken und eine höhere Resilienz gegen Preisschwankungen sowie Versorgungsengpässe aufzubauen. In den vergangenen drei bis fünf Jahren war ein Ausbau dezentraler und erneuerbarer Energieerzeugung vor allem bei Großunternehmen mit besonders hohem Stromverbrauch feststellbar.

Der „klassische“ Mittelstand verfügte in aller Regel über keinen klaren „Business Case“, weder für Verbraucher noch für Energieversorger. Dass dies von den meisten versäumt wurde, lag vor allem an niedrigen Strompreisen, einer geringen CO2-Bepreisung und den oft mühevollen Verhandlungen über Nutzung des produzierten Stroms und Übernahme von Risiken. Oft verfolgten solche Projekte eher das Ziel, die ESG­ Bilanz und damit auch die Außendarstellung zu verbessern, als relevante Stromquellen zu erschließen.

Abbildung 6 illustriert die Entwicklung des Ausbaus der PV­ Kapazität in Deutschland: Noch immer ist ein Großteil des PV-Dachflächen-Ausbaus auf Haushalte und kleinere Gewerbeflächen (<20 kWp) sowie größere Freiflächenanlagen beschränkt. In den Jahren 2020 und 2021 lag dieser Anteil bei rund 70%. Hingegen hinkt das mittlere Dachflächensegment, für welches Mittelstandsunternehmen in besonderer Weise prädestiniert sind, deutlich hinterher. Angesichts der gegenwärtigen Lage erscheint es umso bedauerlicher, dass in den letzten Jahren sogar ein relativer Rückgang zu verzeichnen ist.

Abbildung 6

Entwicklung PV Kapazitätsausbau in Deutschland

Dass gerade der Mittelstand beim Ausbau der Eigenerzeugung in den letzten Jahren an Boden verloren hat, ist in der gegenwärtigen Lage besonders zu bedauern.

Aufbau einer Eigenbeschaffung mithilfe von PPAs
Einen weiteren Schritt, die Energieversorgung in die eigene Hand zu nehmen, stellen Power Purchase Agreements (PPAs) dar. Unter PPAs sind langfristige Verträge zu verstehen, die zwischen einem Abnehmer und einem Erzeuger von erneuerbaren Energien (siehe Abb. 7) geschlossen werden und es ersterem ermöglichen, Strom direkt oder indirekt auf langfristiger Basis zu einem vorab vereinbarten Preis zu beziehen und so auch „grüne“ Herkunftsnachweise zu erlangen. Etwa die Hälfte der in Europa abgeschlossenen PPAs geht aus Schwerindustrie hervor und steht im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung der Produktion, man denke etwa an Covestro und Ørsted, EnbW, Borealis und Fortum. Seit 2014 ist das europäische PPA­Volumen von knapp 450 MW auf rund 11.000 MW kumulierter kontrahierter Leistung angestiegen. Das Abschließen von PPAs zielt meist nicht so sehr auf Kostenoptimierung, als auf Sicherstellung grünen Stroms zu definierten Preisen ab.
Dennoch haben sich PPAs zu Instrumenten entwickelt, mit denen Unternehmen zumindest Teile ihrer Stromversorgung in die eigene Hand nehmen. Noch kennzeichnet den PPA­Markt ein geringer Standardisierungsgrad, in Summe ist aber hier – gerade auch mit der zu erwartenden Nachfrage nach weiteren Werkzeugen zur Sicherung der Stromversorgung in weiteren Sektoren und Unternehmenssegmenten – mit einer fortschreitenden Standardisierung zu rechnen (z.B. auch über portalbasierte Ausschreibungen wie über enPORTAL). Auch wenn PPAs aufgrund hoher Strompreise, unsicherer Prognosen und Illiquidität des Marktes im Moment keine tragfähige Option zur Adaptierung der Stromversorgung darstellen, sollten sie mittelfristig bei der Erarbeitung einer zukunftsfähigen Energiestrategie Berücksichtigung finden.

Abbildung 7

Grundarten von Power Purchase Agreements

Aufbau eines Erzeugungsportfolios über (Minderheiten-) Beteiligungen
Den nächsten Schritt zur Erlangung von Erzeugungsunabhängigkeit stellen Investitionen in erneuerbare Energieprojekte dar. Wie die Eigengewinnung bieten sie Unternehmen die Chance, Klimaneutralität zu erreichen und sich gegenüber steigenden Strompreisen abzusichern. Auch minoritäre Beteiligungen an „Brownfield“- oder „Greenfield“-Projekten können eine interessante Lösung darstellen und werden am Markt bereits aktiv verfolgt. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, in Frage kommende Assets zu identifizieren. Dabei sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, beispielsweise die Nähe der Assets zu den Produktionsanlagen, ihre regionale Konzentration angesichts unterschiedlicher Regularien und Förderregime, die Bereitschaft zur Übernahme von Risiken in Entwicklung und Erstellung der Anlage, die von dem jeweiligen Fertigstellungsgrad des Assets abhängt, aber auch Aufbau und Zukauf von Fähigkeiten zum Management des Stromportfolios und

gegebenenfalls auch des Betriebs des Assets – denn das Unternehmen wird gleichsam „über Nacht“ zum Stromerzeuger. Aktuell ist der Wettbewerb um erneuerbare Assets groß. Am Markt lassen sich Gewinnzuwächse beobachten, die vom Sieben­ bis zum Achtundzwanzigfachen (!) reichen.

Zwar bringt diese Option für mittelständische Unternehmen gewisse Hürden mit sich, aber neben der Eigenproduktion bildet sie eine der wenigen Möglichkeiten, die grüne Stromversorgung – zumindest bis zu einem gewissen Grade – sicherzustellen und damit die Strom­ kosten zu reduzieren und zu stabilisieren.

Unternehmen werden ihre Beschaffungskompetenz bei Energiefragen deutlich ausweiten müssen!

Aktiver Spieler in Erzeugungsgroßprojekten
Ein weiterer Schritt führt dahin, die Stromerzeugung als aktives eigenes Geschäftsmodell zu betreiben und langfristige Partnerschaften mit anderen Spielern einzugehen, um ein eigenes Portfolio in der erneuerbaren Energieerzeugung aufzubauen. Als Beispiel können BASF und Vattenfall gelten, die gemeinsam einen Off­Shore Windpark mit 150 GW Leistung in der Nordsee errichten. Wie die Beteiligung an der Ausschreibung für einen weiteren Off­Shore Windpark in der Nordsee zeigt, soll diese Partnerschaft noch weiter ausgebaut werden. Um diesen Weg einzuschlagen und zu gehen, müssen Unternehmen allerdings Fähigkeiten entlang der gesamten Erneuerbaren­Energien­Wertschöpfungskette mitbringen oder aufbauen, also auch mit Blick auf Entwicklung, Bau, Betrieb und Bewirtschaftung der betreffenden Anlagen. Sie haben auch die Risiken zu tragen, die mit Entwicklung, Bau und Betrieb einhergehen. Dieser Weg ist ebenso kapitalintensiv wie anspruchsvoll und setzt langfristige Investitionen in ein neues Geschäftsmodell voraus. Daher kommt diese Option als Einstieg in die erneuerbare Energieerzeugung nicht ohne weiteres in Betracht.

Umbau des Energiemixes
Die bisherigen Darstellungen haben sich jeweils auf den bestehenden Energiemix bezogen: auf der Verbrauchsseite sowohl auf Strom­ als auch auf Gas bezogen, auf der Aufbringungsseite – mangels Alternativen in der Aufbringung bei Gas ­ ausschließlich auf Strom.

Eine Energiestrategie kann und muss aber darüber noch hinausgehen und eine Adaptierung des Energiemixes anvisiert werden, die auf den Umstieg von Erdgas auf Gase wie Wasserstoff hinauslaufen wird. Angesichts der gegenwärtigen Lage an den Energiemärkten ist der politische Willen zwar erkennbar, den Ausbau der CO2 freien Wasserstofferzeugung und
-infrastruktur immer weiter voranzutreiben, doch ist der Weg bis zur flächendeckenden Verfügbarkeit dieser Energiequelle, auch und gerade für mittelständische Unternehmen, noch ein weiter. Umso wichtiger erscheint es, das „Henne – Ei“­Problem bei Investitionsbedarf und gesichertem Nachfragemuster zu überwinden. Sofern es gelingen wird, hinreichende Mengen von erneuerbarem Strom zu erzeugen, dürfte lokal produzierter grüner Wasserstoff in Zukunft eine Rolle spielen, auch wenn die deutsche Wirtschaft ihren Wasserstoffbedarf noch zu einem Gutteil durch Importe wird decken müssen. Dies unterstreicht einmal mehr, dass sich Unternehmen beim Ausarbeiten mittel­ bis langfristiger Strategien neue Beschaffungs­ und vielleicht auch Erzeugungskompetenzen rund um den grünen Wasserstoff aneignen müssen.

Was jetzt konkret zu tun ist: Die Checkliste für Mittelstandsunternehmen und Energieversorger

Unternehmen

Kurzfristige Optionen:

  • Durchleuchten des Produktionssetups nach Potenzialen zur Verbrauchssenkung
  • Dialog mit Energieversorgern rund um Demand Side Management und Laststeuerung
  • Ausschöpfen neuer Förderprogramme
  • Temporäre Reduktion oder Stilllegung der Produktion
  • In konzernalem Umfeld: Verlagerung von Produktionsvolumina an Produktionsstätten mit niedrigeren Energiekosten

Mittel- bis langfristige Optionen:

  • Erarbeitung einer „Energiestrategie“, die ihren Fokus verstärkt auf Eigenerzeugung, PPAs und auch Investments in Erneuerbare­Energien­Projekte legt
  • Erschließen von Optionen zur Substitution von Erdgas durch grünen Wasserstoff
Energieversorger/Netzbetreiber

Kurzfristige Optionen:

  • Aktive Kommunikation mit den betroffenen Kunden mit Fokus auf Demand Side Management, Unterstützung bei Transparenzschaffung und Suche nach Fördermöglichkeiten
  • Aktive Aufnahme von Energieeinsparungsmaßnahmen in das Beratungsportfolio, ggf. Seite an Seite mit Prozessberatungen, die auf die Industrie spezialisiert sind
  • Lenkung des Augenmerks auf Vertriebsmitarbeiter, da die Kundenbetreuung derzeit besonders herausfordernd ist und langjährige Kundenbeziehungen keinen Schaden nehmen sollen

Mittel- bis langfristige Optionen:

  • Proaktives Unterbreiten von Angeboten zur Umsetzung entwickelter „Energiestrategien“ und „Dekarbonisierungs­Roadmaps“ in den Unternehmen: aktive Rolle bei (sich standardisierenden) PPAs, proaktive Unterstützung beim Ausbau der Eigenerzeugung an den Standorten der Kunden
  • (Noch) aktivere Rolle beim Aufbau energiewirtschaftlicher Kompetenz bei Kunden (Risikomanagement, Umstieg zu grünem Wasserstoff etc.)
  • Laufender Ausbau der Netzkapazitäten für zunehmende dezentrale Eigenerzeugung

Auch wenn die kurzfristigen Optionen sehr begrenzt sind, ist nun der richtige Zeitpunkt für Unternehmen gekommen, sich mit energiewirtschaftlichem Know-how zu wappnen, sich aktiv zu positionieren und an einer eigenen Energiestrategie zu arbeiten.

Meriem Askri war ebenfalls an der Erstellung der vorliegenden Publikation beteiligt.

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Dr. Johannes Schneider

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Partner, Strategy& Österreich

Dr. Eva Poglitsch

Dr. Eva Poglitsch

Director, Strategy& Österreich

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